Vor einiger Zeit wurde ich um Rat gebeten bei der Auswahl eines Hundes. Aus dem Tierschutz sollte er sein und jung. Nun, eigentlich hatte Frau W. sich schon entschieden und zeigte mir glückselig ein Foto von einem etwa fünf Monate alten Welpen. Der vermittelnde Verein gab zur Rasse die Auskunft „unbekannt“. Äußerlich konnte man auf ziemlich viele Hunderassen dieser Welt schließen, auch ein Herdenschutzhund war möglicherweise unter den Vorfahren. Zumindest sah Frau Wagner das so, aber die Familie sei schließlich hundeerfahren und Herdenschutzhunde ja keine Monster.
Es vergingen etliche Wochen. „Keine Nachrichten sind gute Nachrichten“, mutmaßte ich, doch dann überkam mich die Neugierde. Am Telefon erhoffte ich mir von Frau W. einen äußerst positiven Bericht.
„Nein, den Hund haben wir am gleichen Abend wieder weggebracht. Der war ja bissig.“
Wie bitte? Ein Welpe von fünf Monaten bissig? Ohne Punkt und Komma erzählte mir Frau W., wie der große Tag verlaufen war. Sie fuhren zwei Stunden, um den Kleinen abzuholen. Im Auto war er schon unruhig, aber Sohnemann, 12 Jahre alt, spielte sehr schön mit ihm. Zu Hause angekommen wurde der Junghund immer wilder und schnappte nach den Freunden vom Sohnemann. Und dann floss Blut des kleinen Prinzen, und jetzt reichte es der Helikoptermutter, der Hund musste aus dem Haus. Noch am gleichen Nachmittag wurde der Ehemann losgeschickt, um die Retoure zu erledigen, diesmal ohne Begleitung. Und beim Verein hat sich Frau W. in aller Deutlichkeit beschwert, wie man einen bissigen Herdenschutzhund an eine Familie mit einem kleinen Kind vermitteln könne.
Das arme Tier. Der Hund war in Osteuropa geboren und mit zwölf Wochen nach Deutschland gekommen, seitdem lebte er in einer Pflegefamilie. Am Tag X wurde er aus seinem Rudel herausgerissen und von fremden Menschen in ein fremdes Auto verfrachtet. Nach einer für einen jungen Hund sicher langen Zeit durfte er aussteigen. Aber man gab ihm keine Chance. Er hatte nicht die Gelegenheit, anzukommen, in Ruhe die fremde Umgebung kennenzulernen, sich zu orientieren, die Unsicherheit abzubauen. Stattdessen kam eine Horde Nachbarskinder, um mit dem tollen neuen Hund zu spielen. Ich stelle mir lebhaft vor, wie der Welpe gerne mitspielte, wie er dann aber – das passiert auch kleinen Kindern, wenn man sie überfordert und ihnen Ruhepausen verwehrt – überdrehte, wie das Spiel heftiger wurde und schließlich der Junghund unkontrollierbar wurde. Dass er mit fünf Monaten noch spitze Welpenzähne hatte, gestaltete die Folgen recht schmerzhaft. Und schon war der Hund bissig.
Das arme Tier. Ich hoffe, die nächste Familie konnte besser mit ihm um- und auf ihn eingehen.
So schwer ist das eigentlich nicht. Mit ein wenig Empathie kann man sich in die Situation eines jungen Tieres hineinfühlen, das aus seinem Zuhause herausgerissen wird. Plötzlich ist alles Bekannte, alle Sicherheit verschwunden. Dieser Moment bedeutet für einen Hund großen Stress. Stress, der sogar gesundheitliche Folgen haben kann. Viele Welpen entwickeln in den Tagen nach ihrem Umzug Durchfall oder Erbrechen, manche sogar Fieber – alles mögliche Stresssymptome. Das lässt sich verhindern. Geben Sie Ihre neuen Familienmitglied eine Chance – lassen ihm Zeit. Für den Kleinen da sein ist wichtig, aber nicht die ganze Zeit an ihm herumfummeln, ihn hierhin und dorthin tragen („Schau mal, das ist dein Schlafplatz… und hier die Treppe, die ist pfui…“), ihn zwangsbekuscheln. In den ersten zwei oder drei Tagen braucht der Neuankömmling kein Programm, da orientiert er sich in seinem neuen Leben.
Ein Welpe hat einen kleinen Radius, in dem er sich sicher fühlt – und diesen hat er mit dem Umzug zu Ihnen verloren. Den baut er sich jetzt, in den ersten Tagen, neu auf, und dann erweitert er ihn Stück für Stück. So gewinnt er Vertrauen zur Umwelt und zu seiner neuen Familie. So lernt er Selbstvertrauen. Er muss nicht gleich die ganze Straße, den großen Wald, den kompletten Freundeskreis kennenlernen. Das überfordert ihn. Ein gesunder Welpe schläft 18 Stunden am Tag. Der will nicht vormittags in die Hundeschule und nachmittags in den Hundefreilauf. Lassen Sie ihn in seinem Tempo und in Ihrer Begleitung erst das Haus, den Garten, die nähere Umgebung kennenlernen. Schritt für Schritt ist er bereit für mehr. Und so hat er die besten Chancen, ein in sich ruhender, selbstsicherer Hund zu werden.